Artikel aus der Zeitschrift TOUR 12/2002


BRÄGOLLINI

Vorbild-Funktion: Wenn einer versucht, wie sein Vorbild zu sein, und das überhaupt nicht funktioniert, dann kann das nur einer sein...

Wenn es allmählich Winter und draußen früher dunkel wird, neigen ja viele Menschen zu düsteren Gedanken. Wieder ein Jahr vorbei, ohne die angestrebten 5.000 Kilometer auf dem Tacho; wieder ein Jahr verloren im Kampf gegen den lästigen Weizenbiergürtel um die Hüften. Dann kommt auch noch Weihnachten mit den diversen Fünfgang-Gelagen und viel zu viel von viel zu schwerem Rotwein. Da kann man schon mal ein wenig schwermütig werden. Deshalb hat es uns im Radclub auch alle gewundert, als Brägel, der sonst von schweren Winterdepressionen geplagt wird, neulich strahlend zum Clubabend einlief. Die Haare glatt nach hinten gekämmt, unrasiert und etwas streng riechend, was sich damit erklären ließ, dass er sein lichtes Haupthaar mit Campa-Fett nach hinten gestriegelt hatte. Ein Unfall? "Nein", sagt Brägel, "im Sport braucht man Vorbilder. Meines heißt jetzt Mario Cipollini." Atemlose Stille am Stammtisch. Das ist, mit Verlaub, ein radikaler Wechsel. Bisher hatte der Lapp immer einem gewissen Jan Ullrich nachgeeifert. Unregelmäßiges Training, ständig irgendwie verletzt, so gut wie kein ernsthaftes Rennen und dazu noch Probleme mit dem Gewicht, dem Alkohol und so manch anderen Verlockungen des Alltags. Das war schon eher Brägels Welt. Eigentlich ist er so etwas wie der Jan Ullrich der RTF-Szene - und nachdem Brägel sich neuerdings ja auch noch einen Porsche gekauft hat, passte das Vorbild perfekt. Aber jetzt soll es der Weltmeister sein. Der Seriensieger des Giro d'Italia und der Vuelta a Espana, der selbsternannte schönste Radprofi des Universums. "Cipo geht es wie mir", ölt Brägel, "der wird auch nicht zur Tour de France eingeladen."

Ich bestelle mir vor Schreck noch ein Bier und rate Brägel zum Rücktritt vom Sport. Den hat sein neues Vorbild im Sommer ja auch mal erklärt, aber davon will er natürlich nichts wissen. Im Gegenteil - Brägel ist Feuer und Flamme. Er hat sich zur neuen Frisur noch eine Dauerkarte fürs Solarium gekauft, vier paar schwarze Designerschuhe und ebenso viele neue Anzüge. Einen davon hat er an, natürlich auch der in Schwarz, darunter ein schwarzes, eng anliegendes T-Shirt - und weiß lackierte Fingernägel. Das T-Shirt ist durch seinen körperbetonten Schnitt höchst unvorteilhaft, und Brägel sieht aus wie die Mischung aus einem durchgeknallten Dorfpfarrer und einem übergewichtigen Nachwuchszuhälter aus der Provinz. Lässig steckt er sich eine Zigarette ins unrasierte Gesicht. "Mario raucht auch", sagt er. Das stimmt sogar, hab' ich selbst gesehen. Andererseits wird man mit Teerlunge garantiert nicht Weltmeister, so viel ist sicher.

Am nächsten Sonntag kommt Brägel mit dem original Aqua & Sapone-Trikot zum Training. Er sieht aus wie ein schwangeres Zebra und hat einen puterroten Kopf vom Solarium. Trotz grauem Himmel ziert ihn eine abenteuerliche Sonnenbrille. Als er die zum ersten Mal zu Hause vorführte, hat sich der Hund jaulend in eine Ecke verzogen. Jan-Miguel hat geweint und gesagt: "Papa, gaga." Brägel regt an, dass wir am Ende der Ausfahrt einen Sprint fahren, falls es zu einer Massenankunft kommt. Dann rollt er an und zieht eine Duftschleppe hinter sich her, deren Note ungefähr zwischen Lagerfeld und dem parfümierten Briefpapier einer 16-Jährigen liegt Die anderen fragen sich, ob sechs Mann eine Masse sind und beschließen, es auf keinen Fall zu einer gemeinsamen Ankunft kommen zu lassen. Am Ende fährt Brägel noch einen von uns um. Ich sage lieber gar nichts. Nach drei Kilometern reiht sich Brägel hinter mir ein und bleibt auch da. Er hat mit vor dem Start ein Abendessen beim Nobel-Italiener und dazu noch einen Gutschein über 100 Euro für meine Dienste angeboten, einzulösen bei unserem Radhändler. Seit seinem Erfolg bei Günther Jauch spielt Kohle für ihn ja keine Rolle mehr. Für mich schon, und der Italiener ist wirklich erste Sahne. Dafür kann man schon mal kurz in die Helferrolle schlüpfen, zumal Brägel ja sowieso immer hinten fährt. Am letzten kleinen Hügel vor der Rückkehr geben die anderen ein bisschen Gas. Brägel pumpt - und muss dann abreißen lassen. "Zieh' mich wieder ran", stöhnt es leise von hinten. Tatsächlich rollen wir gleich wieder auf Hans auf, der neulich seinen 68. Geburtstag gefeiert hat und wegen einer leichten Erkältung seinen Puls heute nicht zu sehr hochjubeln will. So kurbeln wir dann zu dritt Richtung Finale. Einen Kilometer vor dem Parkplatz bellt Brägel: "Anfahren." Ich gebe ein wenig Druck aufs Pedal, überhole den alten Hans, und plötzlich rauscht Brägel vorbei. Tief gebeugt, Hände am Unterlenker - sieht fast gut aus. Vor dem Clubhaus reißt er jubelnd die Arme in die Luft, eine Sekunde später haut es ihn auf den Asphalt. Lenker verrissen. Hinter den Scheiben des Clubhauses sieht man fröhliche Gesichter. "Egal", jault er, "den Spurt des Hauptfeldes habe ich gewonnen." Ich frage mich, ob der alte Hans und ich ein richtiges Hauptfeld sind, zumal Hans 200 Meter zuvor schon rechts abgebogen und direkt nach Hause gefahren war - wegen seiner Erkältung.

Wie auch immer -Brägel ist glücklich und schmeißt ein paar Runden. "So ein Vorbild", sagt er, "ist etwas ungeheuer Positives." Nachdem er gegangen ist, überlegen wir uns, wem er wohl als nächstes nacheifern will. Vielleicht dem kletternden Hungerhaken Fernando Escar-tín? Oder doch eher dem Zeitfahrspezialisten Michael Rich? Es ist noch ein sehr lustiger Abend geworden.

Jürgen Löhle