Artikel aus der Zeitschrift TOUR


Dabei sein ist alles...

...hat sich Kollege Brägel gesagt und noch schnell ein Ticket nach Sydney gebucht,
jetzt ist er beseelt vom olympischen Geist

Es gibt Geschichten, die glaubt kein Mensch, aber sie sind trotzdem wahr. Also, es war so. Mein Chef ist ein guter Kerl und hat mich vor ein paar Wochen nach Sydney zu den Olympischen Spielen geschickt. Das ist eine verdammt weite Reise, und wenn man dann nach 24 Stunden in verschiedenen Fliegern down under ankommt, ist der Normalmensch ein bisschen durcheinander. Deshalb dachte ich zunächst an eine Halluzination, an einen Ausraster nach derbem Jetlag oder so et-was. Auf dem Weg ins Hotel kam ich an einer ziemlich abgerissenen Kneipe vorbei, die 24 Stunden geöffnet hat und in der ein permanenter Karao-ke-Wettbewerb stattfand. Als ich vorbei ging, war drinnen die Hölle los. Die Leute johlten, und auf der Bühne grölte einer "One moment in time" von Whitney Houston - und zwar derart grauenhaft, dass es keinen Zweifel geben konnte: Er war da, 20.000 Kilometer von zu Hause entfernt, aber er war's. Ein Blick genügte, und mir wurde fast schlecht: Brägel stand auf einem Bretterpodest. Der Kerl hatte eine schwarze Trainingshose an, ein gelb-grünes Australia-T-Shirt, eine Goldmedaille aus Schokolade um den Hals und eine dunkelblaue Schildkappe der Brauerei Fosters auf dem Kopf. Das hätte schon genügt, aber dazu noch das Gewinsel, da wurden selbst die freundlichsten Australier sauer. Ich habe ihn dann lieber rausgezerrt und gefragt, was, um Himmels willen, er hier in Sydney-Lidcombe mache, wo seine neue Flamme wäre und überhaupt. Brägel war, vorsichtig ausgedrückt, angetrunken, hat nur gegrinst und gelallt: "Dabei sein ist alles." Himmel, hilf! Das Wichtigste zuerst: Von Fräulein Hildegard hat er sich getrennt, die gemeinsamen rituellen Einläufe mit Jasmintee und Honig zur Reinigung von Seele und Körper waren ihm dann doch zu viel, zumal sie auch unangenehme Auswirkungen auf sein Radtraining hatten, aber das ist eine andere Geschichte. Kurzum - um die Trennung besser zu verarbeiten, hat er sich entschlossen, am olympischen Straßenrennen teilzunehmen. Beim Bund Deutscher Radfahrer hat man ihm auf sein schriftliches Ersuchen höflich mitgeteilt, dass man sich zwar über sein Interesse freue, die Equipe aber aus den Herren Ullrich, Zabel, Voigt, Klöden und Aldag bestehe, deren Qualifikation minimal höher wäre als sein Formnachweis durch vier abgestempelte RTFs. Er könne ja in vier Jahren noch einmal vorsprechen oder vielleicht - bei der Elfenbeinküste nachfragen. Mit freundlichem Gruß. Daraufhin hat sich Brägel um die Staatsbürgerschaften von Trinidad und Tobago, Aquatorialguinea, Ost-Timor und den Virgin Islands beworben. Zwei Absagen hat er schon, von Ost-Timor kam eine Mitteilung, dass man leider kein richtiges Land sei und Äquatorialguinea hat sich Bedenkzeit erbeten, man wolle zunächst noch seine Fähigkeit als nationale Identifikationsfigur prüfen. Das war genauso gut wie eine Absage, aber Brägel hoffte noch und ließ derweil down under die Sau raus.

Die Sache mit dem Olympiastart erledigte sich dann aber am nächsten Morgen. Beim ersten ernsthaften Training schaute er bei der Einfahrt in eine Kreuzung nach links, was in einem Land mit Linksverkehr ziemlich fatal ist. Das Auto konnte zwar noch bremsen, für deftige Prellungen und ein angebrochenes Schlüsselbein hat es aber gereicht. Dafür kam seine Geschichte auf Seite 8 im Sydney Morning Herald und "Braegel" wurde für einen Tag bekannt. Äquatorialguinea wollte ihn aber trotzdem nicht, und so musste Brägel das olympische Straßenrennen und das Zeitfahren als Zuschauer erleben. Besonders beim Kampf gegen die Uhr fiel ihm das verdammt schwer. "So schnell wie der Zülle wäre ich auch gewesen", maulte er. Sollen wir ihm wirklich sagen, dass der neue Vorradler des deutschen Team Coast als Drittletzter zwar grottenschlecht war, aber immer noch einen Schnitt so um die 45 gefahren ist, den Brägel höchstens aus zwei Versuchen addiert zusammenbringt, wenn überhaupt?

Ich habe es gelassen, und Brägel hatte noch seinen Spaß in Sydney - und seither noch eine Meise mehr. Olympia hat ihm so gut gefallen, dass er jetzt zu Hause jeden Abend ein Feuerwerk in seinem Garten abbrennt. Rad fahren kann man mir ihm auch nicht mehr, weil er jeden Passanten freundlich grüßt, wie er es in Australien gelernt hat, was aber beim Windschattenfahren große Probleme macht. Außerdem spinnt er weiter seinen olympischen Traum. "Athen 2004 - ich bin dabei" hat er sich auf alle seine Trikots bügeln lassen. Ich habe ihn daran erinnert, dass er dann 46 ist und sich bei Olympia eigentlich die Jugend der Welt treffen sollte - das ist ihm aber wurscht. Etienne De Wilde hätte in Sydney mit 42 Jahren eine Silbermedaille auf der Bahn gewonnen, sagt er. Stimmt, aber der Belgier kann auch Rad fahren. Egal, Brägel trainiert jeden Tag, bewirbt sich um die Staatsbürgerschaft von Grenada und hat sich doch wieder seiner Hildegard zugewandt, weil Athleten ein geregeltes Umfeld brauchen, wie er sagt. Ob dazu auch rituelle Einläufe gehören, ließ er offen.

Im Winter will er jetzt im Radklub Vorträge über olympische Ideale und sportgerechte Ernährung halten. Einmal im Monat geht er zu einem Stufentest auf dem Ergometer. Sein letztes Ergebnis: 230 Watt. Das ist nicht einmal die Hälfte eines Jan Ullrich und wahrscheinlich auch für einen Staatsbürger von Grenada zu wenig. Aber er hat ja noch vier Jahre Zeit.

Jürgen Löhle