Artikel aus der Zeitschrift TOUR 7/2002


SONDERWEG

Muss man eigentlich immer politisch korrekt sein? Brägel meint: Nein. Besonders nicht, wenn es um das beliebte Streitthema "Radwege" geht

Oh je. Brägel trägt den Arm in der Schlinge und gibt ein Bild des Jammers ab. Wir vom Radclub hielten das zunächst für eine seiner üblichen Ausreden, weshalb er wieder mal nicht mit zum Training kommen könne - doch diesmal war es tatsächlich ernst. Der Lapp ist gestürzt, als er mit seiner Viola eine kleine Feierabendrunde gedreht hat - auf dem Radweg. Nach ziemlich exakt 1,3 Kilometern hat er sich von hinten kommend mit einer feschen Inline-Skaterin verhakt und ist auf die Plauze gefallen. Das Drama war mal wieder Bestätigung dafür, so genannte Radwege maximal als Gassi-Strecken für den Hund zu benutzen, weil sie für ihre eigentliche Bestimmung schlicht untauglich sind. Ein Radweg in Deutschland ist nämlich fast immer ein Ärgernis. In Städten sind die ausgewiesenen Streifen meist viel zu schmal und dienen eher als zusätzliches Parkplatzangebot für bullige Geländewagen, deren Besitzerinnen vier Stunden beim Frisör sitzen. Gerne schlendern auch frisch verliebte Paare eng umschlungen auf dem roten Band und erweisen sich dabei als taub für jegliche Art von Klingelzeichen. Abhilfe schafft hier nur die Pressluft-Fanfare fürs Fußballstadion. Wegen der Gefahr des vorzeitigen Herztodes sollte sie allerdings nicht bei älteren Menschen angewendet werden. Oder nur in absoluten Notfällen. Spaß macht das alles natürlich keinen - trotz der aufgeschreckt herumhüpfenden Fußgänger. Und wer sich erfolgreich um parkende Autos geschlängelt hat, Frauen mit Kinderwagen und Inline-Skatern ausgewichen ist, trifft hundert Meter weiter dann auf abgestellte Mülleimer oder Biergarten-Ausflügler mit Hollandrädern, von denen keiner einsehen will, dass man mit dem Rad auch schneller als 15 Kilometer pro Stunde fahren kann.

Nicht viel besser ist es außerhalb der Städte. Dort sind Radwege meist wertvolle Biotope mit seltenen Pflanzen, die sich durch den zwanzig Jahre alten, brüchigen Asphalt drängeln. Dazwischen glitzern Glasscherben in der Sonne, umrahmt von Matschbrocken, die irgendein Traktor aus seinen grobstolligen Reifen verloren hat. Kurzum - bundesdeutsche Radwege sind für uns sportive Radler weitgehend ungeeignet, es sei denn, man befährt sie überwiegend nach Einbruch der Dunkelheit oder bei strömenden Regen.

Nicht viel besser ist es leider auf der Straße. Im Frühsommer wurde Brägel an einer Ampel vom Fahrer eines Lasters belehrt, der zuvor einen Kilometer lang nicht überholen konnte, weil der Lapp immer die Knie so weit ausstellt. "Für alle gibt es Sporthallen, nur für euch Vollidioten nicht", bellte der Kerl aus seinem Führerhaus. Brägel antwortete mit einigen heftigen Tritten gegen das Radblech des Ungetüms, verstauchte sich dabei aber nur den großen Zeh. Der Trucker gab dann beim Abfahren so fett Gas, dass Brägel in der Rußwolke fast erstickt wäre. Diese direkte Ansprache ist uns aber trotzdem lieber als der Autofahrer vom Typ Oberlehrer. Die sitzen meist in etwas betagten deutschen Mittelklasse-Limousinen, arbeiten auf einem Amt und haben auf der Hutablage ein Kissen mit aufgestickter Autonummer liegen. Meist nahen sie diskret von hinten, um dann heftig zu hupen. Der Radler erschrickt fast zu Tode, und sieht plötzlich links neben sich einen ganz ungesund rot-köpfigen Menschen, der wild fuchtelnd auf das Asphaltbiotop da neben der Straße deutet, das er für einen Radweg hält. Immerhin, hier findet noch Kommunikation statt Die dynamischen Vertretertypen in übermotorisierten Kombis dagegen hupen nicht und reden nicht - die rasen nur und fegen Radler mit dem bloßen Luftzug von der Straße.

Und die Lösung? Genau, Brägel hat sie. Er hat sich beim Versandhandel den Zeitfahreinteiler von Mario Cipollini bestellt. Den mit den aufgemalten Muskelsträngen, die bei Brägel allerdings ein bisschen über der Wampe spannen. Aus 50 Metern Entfernung sieht er aber tatsächlich ein bisschen bedrohlich aus. Dazu hat er noch eine Wasserpistole mit Rucksacktank sowie eine Pressluft-Tröte gekauft und gibt jetzt den Radweg-Rambo. Wenn Brägel spritzend und hupend naht, springen jedenfalls auch renitente Radweg-blockierer freiwillig in den Graben. Neulich hat ihn sogar sein Hund angeknurrt, wahrscheinlich hielt der ihn für einen Einbrecher. Aber seither hat Brägel freie Fahre Für das kommende Jahr plant er zudem einen Umzug nach Münster, weil da angeblich die Radwege vorbildlich sein sollen. Das wäre nun aber doch zu viel des Guten. Schließlich brauchen wir Brägel. Der Kerl geht uns zwar meist mächtig auf die Nerven, aber ohne ihn - auch unvorstellbar, schon wegen der einmalig spaßigen Unterhaltung. Neulich hat er in seiner Muskel-Montur übrigens einen hupenden Cabriofahrer nassgespritzt Jetzt sieht er sich einer Anzeige wegen groben Unfugs gegenüber. Der Radclub hat beschlossen, ihm den Anwalt zu zahlen.

Jürgen Löhle