Artikel aus TOUR 5/2000


TEAM GEIST

Gemeinsam losfahren/ gemeinsam ankommen - unumstößlicher Grundsatz oder ein Ammenmärchen? TOUR erforscht mit dem Projekt "Big Cyclist" gruppendynamische Prozesse beim Rennradfahren und legt nun erste Ergebnisse vor

Big Brother. Millionen Fernsehzuschauer beobachten eingepferchte Menschen. In der Hoffnung, beim Anblick duschender Artgenossen das letzte Geheimnis der Menschheit zu erfahren: Wer sind wir wirklich? Was die Zuschauer nicht wissen: TOUR forscht an dieser Frage schon seit mehr als zwei Jahren. "Big Cyclist" heißt das Projekt, in dem sechs Testpersonen jeden Mittwochabend zur gemeinsamen Ausfahrt mit dem Rennrad antreten. Während der Fahrt hält das im TOUR-La-bor entwickelte Brain-Checker-System (BCS) die Gedanken der Probanden fest.

Tausende hatten sich für diesen Langzeittest beworben - einzige Voraussetzung: Die Probanden mussten Arbeitskollegen sein. Tag für Tag eingepfercht in einem Büro - dann der Härtetest am Mittwoch. In die engere Auswahl kamen: eine Werbeagentur, die Abteilung Zahnzusatz einer großen Versicherung, die komplette Redaktion "Men's Hero" und ein Familien-Bäckerbetrieb. Das Rennen machte die Versicherung. Nach 100 Ausfahrten veröffentlicht TOUR nun erstmals BCS-Mitschnitte aus "Big Cyclist":

"Wo fahr'n wir eigentlich lang heute? Huch, die sind ja schon wieder gestartet. Also dranblei... hupps, Straßenbahnschienen, hoch den Lenker. Da vorn kommt eine Ampel, da können wir endlich die Route klären... Hey, Ihr könnt doch nicht bei Rot! Sie können - hoffentlich sieht uns keiner. Also, wohin jetzt? Bisschen viel Feierabendverkehr... die anderen fahren einfach zwischen den Autos durch. Ganz schön eng hier... Jetzt wieder rechts rüber? Sorry, lieber Golf-Fahrer, aber ich muss dran bleiben an den Kollegen, denn da vorn kommt schon wieder 'ne Ampel! Der erste Berg, 15 Prozent, da rollt das Feld bestimmt wieder zusa... hey, wieso schalten die denn auf ein kleineres Ritzel? Nix wie hinterher! Schön, so 'ne Laktatdusche gleich nach dem Losfahren. Endlich, das erste Flachstück, ohne Autos! Täusche ich mich, oder sind wir schon zwei weniger als am Anfang?" Rüdiger R, Gebietsleiter Südbayern — verhält sich auf dem Rennrad "wie im Büro: hilfsbereit und ausdauernd

"Endlich geht's los. Klick, klack, Bewegung. Gequengel von hinten: Fahren wir heute locker oder wie immer? Blöde Frage. Ist Merckx je langsam gefahren? Einem geht's nie schnell genug los:

Janosch biegt rechts ab - weg ist er. Janosch blickt nie nach hinten. Der Rest fährt links. Stadtverkehr. Bergwertung. Scheibe und los! Aaah, umsonst. Kaltstarterschicksal. Keiner ist auf seinem Posten. Laktat 5 für nichts. Nörgler nörgeln: zu schnell. Quatsch, gerade mal 230 Watt! Im Forst fahr' ich nach vorn. Heimatstrecke. Will hier nicht beim Bummeln gesehen werden. Schöne Reihe hinter mir. Anfahrt auf eine Senke. Positionskampf auf der Abfahrt, es scheppert und flucht. Max verliert seine Pumpe. Jetzt das Tempo schön über die Wellen bringen! Der Wind steht gut, die Fünf auf dem Tacho ruft. Liegelenker, Kette rechts, Max im Auge behalten: der fährt nicht nur im Spurt Zick-Zack. Lasse mich nach hinten fallen, reihe mich hinter Rüdiger ein. Warum hält der auf einmal zwei Meter Abstand? Ist der krank? Und weg platzt er. Sammeln im nächsten Dorf. Sind alle warm? Dann könnten wir ja mal ein bisschen Gas geben. Die Laktatgerade ruft, der Tacho hat die Fünf vorne! Tunnelblick. 400, 500, 600 Watt und rüber über die Kuppe. Hinten franst es aus. Wer ist der Punkt am Horizont? Leitpfosten fliegen vorbei. Klasse Film. G l spezial. Wie jede Woche." Rocky K., eigentlich Flugzeugbau-Ingenieur, jetzt Sachverständiger für Zahnimplantate — glaubt immer noch, er brauchte so viele Kohlehydrate wie zu seiner aktiven Rennfahrerzeit "Von wegen: gemeinsame Ausfahrt! Sogar unter primitivsten Lebensformen funktioniert der lebenswichtige Herdentrieb. Den zivilisierten Zweibeinern ist er anscheinend verloren gegangen -vor allem wenn starke Luftströme um den Kopf wirbeln: Warum sonst legt der Kollege vor mir gerade eine Vollbremsung hin? Mann, was ist los? Bremsen, Schuh aus dem Pedal, alles gleichzeitig - bloß nicht umfallen. Hinter mir quietscht es. Eine Kreuzung, Härtetest für die Gruppe, wie jeden Mittwoch. Alle stehen über die Straße verteilt, so wie jeder gerade aus den Pedalen gekippt ist. Und nun? Also, ich schlage vor, wir fahren geradeaus weiter.' 'Nein, dann sind wir nicht vor Dunkelheit zurück. Fahr'n wir links.' 'Och ne, da sind wir letzte Woche erst gefahren.' 'Wieso fahren wir nicht rechts?' 'Jedes Mal das Gleiche! Macht was ihr wollt, ich fahr' geradeaus.' 'Nö, seh ich gar nicht ein.' ...mehr höre ich nicht, hab' schon umgedreht." Sonja G., Sachbearbeiterin A-K — ist früher Rennen gefahren, kann als einzige gleichmäßig und langsam kurbeln

"Bin in Grünwald rechts abgebogen und alle anderen nicht, obwohl ich vorne war. War trotzdem schön." Janosch S., Sachbearbeiter L-Z — verschwindet jeden Tag stundenlang zum Außendienst, kommt aber mit den meisten Vertragsabschlüssen zurück. Keiner weiß, wieso "Seit zwei Jahren derselbe Blödsinn. Von denen kann einfach keiner in der Gruppe fahren. Aber diesmal lass' ich mich nicht provozieren. Heute fahre ich mit den Mädels 'ne geordnete, gemütliche Runde.... Hoppla, es geht los! Vollgas! Am ersten Berg Puls 170, dann Kette rechts und immer schön straff halten. Keine Ahnung, wo wir sind - shit, schon wieder ein Berg. Da schau her, nur noch Rocky da, alle anderen weggeplatzt. Seine SRM-Kurbel meldet 400 Watt Tretleistung, mein Pulsmesser blinkt aufgeregt mit 185. Oh, da vorn scheint Licht durch die Bäume, das ist sicher das Ende des Anstiegs, jetzt leder' ich ihn ab. Vollgas! Er kann nicht mit. Noch 50 Meter bis zur Kurve, Bergwertung. Schock:

Da geht's weiter bergauf! Egal, ich will's wissen. Auf der Höhe drehe ich mich um, geil, 20 Meter Vorsprung! Meine Pulsuhr zeigt zwei Striche, dann 197. Ah, der HAC4 kann keine 200!" Max M., ist eigentlich Philosoph, jetzt für Risikoversicherte zuständig — verbirgt seine Wikingerwaden im Büro unter schlammfarbenen Hosen "Komm doch mit, wir fahren ganz langsam! Selten klang ein männlicher Lockruf verführerischer. Doch ein über Frauengenerationen vererbtes gesundes Mißtrauen ließ mich zögern. Aber dann habe ich doch wieder Max' blauen Augen vertraut, Rockys beschützendem 'Ich schieb' dich, wenn's schlimm wird' geglaubt und Janoschs verächtlichen Blick auf meine dünnen Waden übersehen. Und es war wie immer: Der steilste Berg am Anfang. Ein schnaufender Max neben mir: 'Gleichmäßig treten, Anita', und er schleudert seinen Lenker gefährlich in meine Nähe. Ich suche vergeblich nach kleineren Gängen. Auf der flachen Geraden hänge ich mich an Rockys Hinterrad. Nur keine Blöße geben, nur nicht schwaches Weib spielen! Vergesse, den Tacho zu kontrollieren und Rocky an sein Versprechen zu erinnern. Zehn Minuten später, zehn Stundenkilometer mehr. Lasse abreißen, hinter mir Genöle. An einer Kreuzung ist Schluss. Wie immer erbarmt sich Sonja, ich darf in ihrem Windschatten nach Hause rollen. Denke zum hundertsten Mal: Nie wieder!" Anita R., Sachbearbeiterin für besondere Aufgaben - leiht sich mittwochs immer den Tacho ihres Bruders aus, damit nicht gleich beim Start auffüllt, dass sie nicht trainiert hat

Nach mehr als zwei Jahren Beobachtung konnte TOUR nur geringfügige Änderungen im Gruppenverhalten feststellen. TOUR wird daher das Big-Brother-Verfahren auch für Big Cyclist anwenden. Ab sofort können Leser jeden Monat einen Probanden aus der Gruppe herauswählen.

DasTOUR-Team